1972 war nicht nur das Geburtsjahr von Sonepar Deutschland, sondern auch das „Jahr der Experimente“. Eines davon begann mit einem schmucklosen Stück Kartonpapier, gefaltet und blau bedruckt mit dem Schriftzug „Interrail“.
Für junge Leute bis 21 bedeutete es damals die Welt. Oder genauer: 21 Länder in Europa zum Einheitspreis. Was eigentlich als Werbegag zum 50. Geburtstag des „Internationalen Eisenbahnverbands“ gedacht war, entwickelte sich in Rekordgeschwindigkeit zu einem unverwechselbaren Stück Jugendkultur.
Seine Hochphase erlebte das wunderbar einfach konstruierte Monatsticket in den ersten zwanzig Jahren seiner Existenz. Eigentlich waren es nur zwei wesentliche Änderungen, die es in dieser Zeit gab: Ab 1979 wurde das Maximalalter auf 26 Jahre erhöht. Und ab dem Fall des Eisernen Vorhangs 1990/91 kamen weitere Länder in Mittel- und Osteuropa hinzu und ließen die Interrail-Gemeinde nochmals wachsen.
Was aber machte die Faszination aus, die so groß war, dass ein Schulabschluss ohne Interrailtour in dieser Zeit kaum denkbar war? Oder so groß, dass Länder wie Griechenland schon bei der Einreise einen Buchungsnachweis für Hotel oder Pension verlangten, weil sie der Heerschar unter freiem Himmel kampierender Jungzugreisender nicht mehr Herr wurden?
Zumutung für Nasen und Eltern
Interrail damals, das war: jede Menge Europa für ganz wenig Geld. Die ersten richtigen Ferien ohne Erziehungsberechtigte. Eine olfaktorische Zumutung (hier sparen wir uns die Details). 18 Stunden zu zwölft im Achterabteil des Bummelzugs vom schottischen Inverness nach London. Tütensuppen, nix als Tütensuppen. Halluzinationen von Waschmaschinen und Badewannen. Ahnungslose Eltern, die bei näherer Kenntnis der Umstände (in dieser seligen, handylosen Zeit) das Ganze sofort unterbunden hätten. Jeden Tag neue Freunde von sonst woher.
Ein neuer Zug wird geboren
So gesehen war 1972 also ein Jahr, in dem eine europäische Erfolgsgeschichte gestartet wurde. Obendrein war es das Geburtsjahr des InterCity, kurz IC, der bereits im Winterhalbjahr 1971/72 das Licht der elektrifizierten Eisenbahnwelt erblickte. Das Novum hieß „Taktverkehr im Fernverkehr“ und galt im Zweistundenrhythmus auf vier Linien: Hamburg – München, Hannover – München, Hamburg – Basel, Bremen – München.
Auch diese Novität sorgte für reichlich PR-Wirbel. Doch einen wesentlichen Unterschied gab es: Anders als die „Ganghocker“, wie Interrailer auch genannt wurden, weil die überfüllten Züge zu wenig Abteilplätze boten, durfte die IC-Kundschaft in der Anfangszeit Exklusivität genießen. Angeboten wurde nämlich nur die 1. Klasse …
Der Rest der Story ist bekannt: Aus dem IC wurde in diesen 50 Jahren der ICE, der als ICE 5 derzeit optimiert wird. Auch das Interrail-Ticket, diese lebende Legende, wurde mittlerweile modifiziert, teurer und komplizierter. Echten Interrailern darf man diese modulhafte Komfortvariante allerdings nicht anbieten. Es gibt einfach Dinge, die lassen sich nicht verbessern.
Dieser Beitrag ist ursprünglich im Sonepar-Report in der Ausgabe April 2022 auf Seite 31 erschienen.